WhatsApp, Snapchat & Co.: Privatheit als Gegenentwurf zu klassischen sozialen Netzwerken

Privater Prolog


 

Öffentlichkeit vs. Nähe in sozialen Netzwerken. Oder: Wo Google+ echt mal geschlafen hat

Die wichtigste Verschiebung in den sozialen Netzwerken ist nicht der medial so gern besungene Abgang „der Jugend“ raus aus Facebook. Dieser ist für mich nur Symptom für eine dahinter stehende, weiter gefasste Entwicklung, die sich mittelfristig nicht nur auf junge Nutzergruppen beschränken wird. Im Gegenteil. Was wir mit dem Aufstieg von Kommunikationsnetzwerken wie WhatsApp und Snapchat gerade erleben, ist eine Bewegung weg von Makrokosmen hin zu Mikrokosmen.

Ich meine das so: Die bisher etablierten Kommunikationsnetzwerke (Facebook, Twitter, Google+) basieren auf einem weitgehend offenen Sender-Empfänger-Prinzip. Von ihrer Grundausrichtung her sind die Netzwerke so gedacht, dass ein Einzelner mit seinem geteilten Inhalt eine Menge an Empfängern simultan erreicht. Allen technischen (Edge-Rank) und strukturellen (Kreise, Follower-Prinzip) Einschränkungen zum Trotz, definiert sich so meiner Meinung nach das Grundwesen der genannten Netzwerke. In ihnen ist Öffentlichkeit systemimmanent angelegt.

Diese zeigt sich an vielerlei Stellen auch im Kleinen: Shitstorms, global verwendete Hashtags, Memes – für sie alle ist Öffentlichkeit Grundvoraussetzung. Gleichzeitig beziehen die Netzwerke hieraus ihren enormen Reiz, auch und gerade für Unternehmen. Via Facebook, Twitter & Co. erreicht eine Marke fast spielerisch leicht eine Masse an potenziellen Kunden, die vor dem Aufkommen der sozialen Netzwerke wesentlich schlechter messbar nur durch flächendeckende Bombardierung mit klassischen Werbeformaten angesprochen werden konnte.

Privatheit als Kennzeichen der „neuen“ Netzwerke

Es ist weniger das Sender-Empfänger-Prinzip dieser Makrokosmen, das in meinen Augen zum Aufkommen einer anderen Form von Kommunikationsnetzwerken geführt hat. Eher seine unkontrollierte Skalierbarkeit: Obwohl auch in diesen Netzwerken der Nutzer genau definieren kann, wer welchen Inhalt sieht, finden diese Einschränkungen der Öffentlichkeit kaum statt.

Vermutlich aus zwei Gründen: Zum Einen ist die Transformation von Öffentlichkeit zu Privatheit hier maximal kompliziert. Zum Anderen misstrauen die Nutzer den etablierten Netzwerken. Ein zwar „weiches“, aber vielleicht entscheidendes Argument. Wunderbar zu sehen am Verhalten der WhatsApp-Nutzer: Als WhatsApp in seiner Anfangszeit immer wieder die Nutzerdaten von Hunderttausenden an Hacker verlor, führte das zu kaum spürbarer Empörung. Der Verkauf an Facebook jedoch spülte WhatsApp-Alternativen wie Threema und Telegram wochenlang an die Spitze der App-Downloadcharts.

Die Sichtbarkeitseinstellungen für einzelne Beiträge in den Makrokosmen Facebook, Twitter und Co. sind zu komplex. Diese Schwäche machten sich jene Netzwerke zu Nutze, die ich oben als Mikrokosmen bezeichnet habe. Schon ihre Struktur bricht mit dem Öffentlichkeitsprinzip der anderen Netzwerke. Beispiel WhatsApp: Die Timeline wird ersetzt durch einzelne, in sich geschlossenen Chatrooms. Sogar so weit geschlossen, dass nachträglich hinzugefügte Chatmitglieder den vorherigen Nachrichtenverlauf nicht sehen können. Beispiel Snapchat: Im „Lesemodus“ wie ein Posteingang, den nur Einzelpersonen (und inzwischen mehr und mehr auch Unternehmen) bedienen können, im Postausgang muss jeder Empfänger einzeln aus der Masse an Kontakten gewählt werden. Beide Modelle haben gemeinsam, dass jeweils auf den ersten Blick klar ist, wer eine Nachricht lesen kann und wer nicht.

Das hat den Netzwerken nicht nur eine große Beliebtheit gebracht, sondern auch das Kommunikationsverhalten der Nutzer beeinflusst. Wer hätte nach dem lange verdienten Tod der Rundmail etwa gedacht, man würde sich freiwillig wieder in Gruppenkommunikation begeben, die ähnlich spammig, jedoch viel weniger verwirrend (klar ersichtliche zeitliche Abfolge der Einträge) ist?

Messenger haben die sozialen Netzwerken in ihrer Relevanz für den Alltag der Nutzer überholt. Selbst Mark Zuckerberg gibt das zu und erklärt damit, warum Facebook die ausgelagerte Messenger-App so wichtig war. Wie übrigens auch der Kauf von WhatsApp.

Heute erleben wir ein Nebeneinander von geschlossenen und offenen Kommunikationsnetzwerken – mit der für manche Unternehmen bitteren Erkenntnis, dass es bisher nur für eines von beiden funktionierende Marketingstrategien gibt (die gleichzeitig immer teurer werden). Diese Einschätzung stimmt zwar nur zur Hälfte (es gibt durchaus Möglichkeiten, WhatsApp als Unternehmen sinnvoll einzusetzen), für Ausführungen zu diesem Thema möchte ich aber an dieser Stelle vorerst auf meine Kontakt-Seite verweisen.

Ach, Google…

Fassen wir also zusammen: Durch einfache Struktur und klare Trennung der einzelnen Kommunikationsstränge haben sich mikrokosmische soziale Netzwerke wie Snapchat, der Facebook Messenger und WhatsApp etabliert, die in ihren Nutzerzahlen den herkömmlichen sozialen Netzwerken den Rang ablaufen. Moment mal, aber gab es nicht ein soziales Netzwerk, das von Beginn an auch auf die klare Trennung der Kommunikationszirkel gesetzt hat? Nennen wir diese Zirkel doch einfach mal „Kreise“?

Und hier kommt der Punkt, an dem es für Google mal wieder schmerzhaft wird. Denn meines Erachtens war es vor einigen Jahren in der Pole Position, die problematische Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit in sozialen Netzwerken zu lösen. Von Beginn an waren vom Nutzer erstellte Kreise Dreh- und Angelpunkt von Google+, bei der Präsentation wurden sie als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zum Konkurrenten Facebook vorgestellt. Noch mehr: Sehr bald gab es mit der Hangout-App eben das, was Facebook erst viel später und nach einem teuren WhatsApp-Kauf leisten konnte. Eine eigenständige Messenger-App für Smartphones mit Nachrichten, die plattformübergreifend sicht- und beantwortbar waren. Sogar erweitert um die Möglichkeit (Video-)Anrufe in Form von Hangouts zu inszenieren, allein oder in der Gruppe.

Doch wie alles, was Google in den letzten Jahren angepackt hat, kam man nicht über gute Ansätze hinaus. Gerade bei Google+ versagte das Unternehmen dabei, die Vorteile und Unterscheidungsmerkmale zu Facebook früh genug zu definieren und zu vertiefen. Stattdessen mischte sich dort alles durcheinander: Videoanrufe, Nachrichten, Timelines, private und Unternehmensprofile, Kreise und Notifications. Ergänzt um einen Zwang zur Anmeldung, der nie als etwas anderes als Zwang verkauft wurde. Über so eine schlechte Eigenpublicity könnte jemand wie Apple nur lachen – wo jeder Zwang als Geschenk verkauft wird. Google sagt: „Ist halt so. Musst dich auch da anmelden.“ Apple sagt: „Bisher nervte doch alles, oder? Wir haben es schön gemacht und du kannst das jetzt ganz entspannt bei uns machen. Und nur bei uns kriegst du es so schön und einfach.“

Endlich: der Nachfolger von E-Mail und SMS

Was bleibt also festzuhalten? Da die etablierten sozialen Netzwerke zu spät beziehungsweise gar nicht auf das Bedürfnis der Menschen reagiert haben, auch privat kommunizieren zu können, gibt es nun gleichberechtigte Kommunkationsplattformen. Sie können zur Konkurrenz werden, wenn sich der Anteil der Kommunikation weiter in Richtung dieser geschlossenen Systeme verschiebt. Ein „Share it to WhatsApp“-Button, wie ihn manche Seiten schon verwenden, kann in meinen Augen für bestimmte Inhalte viel interessanter sein als der altehrwürdige Facebook-Like-Button. Es wäre verwunderlich, wenn es in Zukunft nicht immer einfacher für die Nutzer würde, Artikel, Bilder und Videos aus dem Internet auch via geschlossene Kommunikationszirkel zu teilen. Wo sich die Inhalte und das Sprechen darüber dem Contentersteller entziehen und nicht messbar werden. Spätestens hier werden die meisten Unternehmen nervös.

Und auch das kann man festhalten: Der lang gesuchte „Nachfolger der SMS“ ist gefunden. Und Google hat eine weitere große Chance liegen lassen, sich im Markt der Kommunikation zu etablieren. Wenn man in Betracht zieht wie Facebook durch sein rigoroses Pushen von Videos Youtube das Wasser abgräbt, bekommt das Bild von der „Welle der sozialen Netzwerke“ wieder seine Richtigkeit, das Google-VP Vic Gundotra vor der Einführung von Google+ bemüht hat:  Der interne Name für Google+ war „Emerald Sea“

“We needed a code name that captured the fact that either there was a great opportunity to sail to new horizons and new things, or that we were going to drown by this wave.”

Er ließ deshalb laut Wired auch ein bedrohlich wirkendes Bild gegenüber dem Fahrstuhl bei Google aufhängen. Darauf: ein kleines Schiff vor einer riesigen Welle. Das Schiff stand für Google, die Welle als der Trend zu sozialen Netzwerken im Netz. Mich würde interessieren, ob es immer noch dort hängt. Im April 2014 gab Gundotra seinen Rückzug von Google bekannt.

8 Kommentare WhatsApp, Snapchat & Co.: Privatheit als Gegenentwurf zu klassischen sozialen Netzwerken

  1. Pingback: Hier: privat | Max Ost

  2. Thomas

    Die Kommunikationsaufgabe der Zukunft für Unternehmen besteht also darin, in die „internen“ Kreise der User zu kommen? Und Wege zu finden, dass man die „Kontrolle“ über die dort entstehenden Kommunikationen bekommt?
    Spannend. Sehr spannender und guter Artikel.

    1. Max-Jacob Ost

      Die Unternehmen müssen in diese internen Kreise kommen und zwar vom Nutzer gewollt. Kontrolle wird es nicht geben und das ist auch in Ordnung. Letztlich hört sich diese Aufgabe auch viel schwieriger an, als sie eigentlich ist. Aber darüber schreibe ich demnächst mal.

  3. Jens

    Der Erfolg von Instagram steht dem ein bisschen konträr gegenüber, oder? Oder sind dort die privaten Nutzer in der Überhand? Ansonsten ist es ja ein absolut offenes Netzwerk, was sogar „Likes“ der Nutzer an seine Follower ausspielt.

    1. Max-Jacob Ost

      Finde ich ehrlich gesagt gar nicht. Instagram ist strukturell betrachtet nur ein Mittelding: Es gibt keine Retweets und deshalb ist die Sichtbarkeit erstmal auf die Follower beschränkt. Gleichzeitig ist aber alles öffentlich (private Accounts jetzt mal ausgenommen) und letztlich auch auf Öffentlichkeit angelegt, sonst würden die Nutzer nicht durchschnittlich 30 Tags pro Bild vergeben (gefühlt). Ich glaube, dass Instagram durch seinen Fokus auf Bilder und dadurch, dass die Struktur immer gleich geblieben ist, ganz anders von Nutzern verwendet wird. Das mit dem „konträr“ verstehe ich nicht ganz. Konträr zu was?

      1. Jens

        Konträr zu der Annahme, die Jugend verlasse Facebook Richtung privater Unterhaltungen in Messenger-Apps, da sie die Öffentlichkeit scheuen.

        Bei Instagram ist diese Öffentlichkeit ja gerade von den Jugendlichen so gewollt. Sie wollen sich präsentieren.

        Daher sehe ich es eher so, dass sich die Nutzer eine App für jedes Kommunikations-Anliegen/Bedürfnis anschaffen und eben keine eierlegende Wollmilchsau mehr haben wollen, die alles kann. Facebook geht mit der Segmentierung seiner Dienste in einzelne Apps ja genau den Weg.

        1. Max-Jacob Ost

          Ok, jetzt verstehe ich. Das ist sicher richtig und im Grunde sind wir uns da einig: Es gibt ein Nebeneinander verschiedener Apps, die Vormachtstellung von v.a. Facebook ist im mobilen Bereich passé. Bezüglich der Nutzungshäufigkeit und Nutzerentwicklung hat sich da bei Instagram aber auch nicht mehr viel getan, während die Messenger plötzlich bedeutsamer sind als die klassischen sozialen Netzwerke.

          Und ich glaube auch, dass Facebook das richtig erkannt hat. Dafür spricht der Kauf von WhatsApp, die Ausgliederung des Messengers und jetzt auch die neue Groups-App.

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