Franz

Auf dem Weg klingt es ungewöhnlich. Schritte auf Schneematsch und Kies, hunderte Füße zugleich, ein beständiges Knirschen und Knarzen. Doch kaum jemand spricht. Das Stadion wird größer und größer, immer noch dieses eine Geräusch. Was auffällt, ist das was fehlt. Lärm eines Spieltags, Gesänge, Flaschensammler, das Wummern aus Richtung der Luftkissen.

Drinnen. Vor der Kurve der Ultras ist eine Kamera auf Stahlrohren aufgebaut, alles auf dem Feld ist so ausgerichtet, wie Franz Beckenbauer es gesehen hat: Südkurve im Rücken, sein Banner im Mittelkreis zeigt ihn mit dem Kopf Richtung gegnerisches Tor, nur die aus Blumen geformte 5 liegt im falschen Strafraum, aber das ist besser für das Bild. Kurz bevor es losgeht, saugt noch jemand die Bühne, auf der Bundespräsident Steinmeier und noch zwei weitere Präsidenten sprechen werden. Ein Handy neben mir klingelt, Sonntag sei gut, sagt der Angerufene im wabbelndem Bayrisch, an einen kleinen Frühschoppen habe er gedacht. Als der Tölzer Knabenchor seine Version von „Gute Freunde“ singt, läuft der Text zum Mitsingen auf der Anzeigetafel zu langsam hinter dem Lied her.

Zwanzig Kränze liegen rund um den Mittelkreis, da bittet die Stimme des Stadions, Stephan Lehmann, um Ruhe. Noch mehr Kränze sollen gebracht werden. Vor mir erheben sich die Menschen, aber es ist nicht ganz klar, ob aus Ehrerbietung oder weil einige von ihnen aufgestanden sind, um Fotos zu schießen. „That’s what friends are for“ von Dionne Warwick in einer Endlosversion erklingt, ein Mann steht am Mittelkreis und winkt die neu eingetroffenen Kränze zu den anderen. Ihre Trägerinnen und Träger nehmen den weiten Weg um den Kreis herum und legen jeweils ihren dazu. Jeder bekommt seine eigene Runde, danach bleiben sie bei ihren Kränzen stehen. Eine Gruppe, die länger warten musste, schwankt beim Tragen. Der Einweiser eilt hinzu und hebt nicht mit, sondern richtet die Stoffbahnen mit der Botschaft, von wem der Kranz ist. Blinken in den Kränzen Lichter?

Eine Frau beendet mit leichtem Kopfschütteln beim vierten Kranz das Video, das sie mit dem Handy gefilmt hat. Drei Plätze links von ihr zündet sich ihre Nachbarin eine Zigarette an. Eine Familie mit zwei Söhnen kommt die Treppen zu den Sitzplätzen herab. In einer Hand hält jeder der Buben eine Tüte Popcorn, in der anderen eine des Fanshops. Zu „Una Mattina“ fliegt ein Hubschrauber über das Stadion, vorbei am Mond, der am hellblauen Himmel so lange zu sehen ist, bis Fetzenwolken ihn verdecken.

Ein Beat unterbricht das ruhige Piano. Spieler – Player, Mensch – Human, Kaiser, ist auf der LED-Leinwand zu lesen, die groß ist wie eine Vier-Zimmerwohnung, wie mir mal jemand vom Stadion erzählt hat. Stephan Lehmann, mit Sonnenbrille im Schatten, trifft den perfekten Pfarrerston in seiner Anmoderation. Die Namen der elf Wegbegleiter, die nun aufs Feld kommen sollen, hätte er bei einer Meisterfeier gerufen, jetzt raunt er sie mit wie mir scheint fast brüchiger Stimme.

Da kommen sie. Overath hinkt mehr als er läuft, zu den Klängen einer italienischen Arie („Die hat Franz geliebt!“) läuft die Elf der Vergangenheit zum Anstoßkreis, Breitner führt an bis zur Mittellinie, Günter Netzer schließt den Raum zu ihm, weil aber Bulle Roth eine Lücke lässt, stehen sie schief.

Präsident Hainer spricht und es dauert bis zur zweiten Minute seiner Rede, bis die Menschen im Stadion, die vor der Arie darum gebeten wurden aufzustehen, sich wieder setzen. Hainer ist währenddessen noch bei der namentlichen Begrüßung aller wichtigen Gäste.

Für die Beschallung wurden Boxen aufgestellt, unter anderem dort, wo sonst meist der Gästetrainer steht. Weil sie auf die Tribünen gerichtet sind und das Stadion halbleer ist, wird der Schall unter dem Dach gefangen und zurückgeworfen. Es klingt wie in einer Kirche.

„Wir hatten das große Glück, eine Kaiserzeit erleben zu dürfen“, sagt Hainer. Dann erzählt er vom letzte Spiel gegen die TSG Hoffenheim. Er schließt: „Der FC Bayern wird immer ein Kaiserreich bleiben. Und das auf ewig.“ Applaus. „Mia san Franz“, spricht Hainer, nach seiner Rede erhebt sich nur etwa die Hälfte der Anwesenden.

Die Nummer 5 auf dem Rasen, der Kranz auf der Tribüne, sie sind ganz aus roten Rosen. Ich muss an die Beerdigung von Lemmy Kilmister denken, an seine Beerdigung in einer kalifornischen Kirche, die ich im Stream gesehen habe. Er hatte sich offenbar das Kreuz der Wehrmacht aus roten und weißen Rosen gewünscht, zumindest stand das neben dem Rednerpult. Lemmy war ein Weltkriegfanatiker gewesen. Dave Grohl hatte damals die beste Rede zu ihm gehalten, eine nach der man beim Weinen lachen musste. Hier spricht jetzt Bundespräsident Frank Walter-Steinmeier.

„Ich weiß nicht, ob die Engel im Himmel Sport treiben“, ist sein Einstieg. Ein Bundespräsident, der im staatstragenden Ton von Engeln spricht. Im Kreis der großen Kränze mit Scherpen liegen zwei kleine ohne, entdecke ich. Von wem sie wohl sind?

Lauter als nach der Rede von Steinmeier, in der es viel darum ging, wie die Welt Deutschland durch Franz Beckenbauer sieht (positiver), klatschen die Leute nach einem Film über den Verstorbenen. Diesmal stehen alle im Stadion, es wird so lange applaudiert, dass die Regie immer neue Prominente einblendet, die mitmachen. Harry Kane und Thomas Müller sind zu sehen, ein Mann hält seinen Schal hoch, es mischen sich jubelnde Pfiffe in den Applaus, Trikots werden hochgehalten.

Als Ministerpräsident Söder zum Mikrofon schreitet, klatschen die Menschen schon beim Gang dorthin. Ist das noch die Wirkung des Videos? Söder bindet das Publikum mit ein, ein Dialog im klassischen Bierzeltmodus mit rhetorischen Fragen („Waren Sie von seinem Tod auch so geschockt?“ und dem Lob an die Anwesenden, die sich erfreut selbst beklatschen („Dass Sie alle da sind, das finde ich großartig!“). Einen hätten sogar die selbstbewussten Breitner, Hoeneß und Co. als den Ersten unter sich gesehen: Franz Beckenbauer, „Chef des deutschen Fußballs“, spricht der Experte im Chefsein und wieder klatschen alle.

Die WM nach Deutschland geholt zu haben, schließe die „Dreifaltigkeit des Fußballs“ ab, sagt Söder. Wie wunderbar dieses Sommermärchen gewesen sei. So tolles Wetter und auch heute sei das Kaiserwetter ein Wink des Himmels. Inzwischen wartet er nach solchen Sätzen auf das Publikum und das reagiert und klatscht. Größer als seine sportlichen Erfolge seien die als Mensch, fährt Söder fort und kritisiert die Dokumentationen, die jüngst über Beckenbauer gelaufen seien und in denen viel vom „Schatten“ auf seinem Leben geredet worden sei, obwohl doch viele nur Mutmaßung sei. Erstaunlich, wie viele sich von ihm distanziert hätten, sagt der Ministerpräsident und eine Frau links von mir ruft „Bravo!“ in den Applaus. Gott schütze Franz Beckenbauer, schließt Söder.

Uli Hoeneß kommt, die ersten jubeln.

Mit belegter Stimme beginnt er seine Rede. In Birmingham 1966 habe er Franz Beckenbauer das erste mal live spielen sehen, vier Jahre später beim ersten Treffen nach der WM 1970, als Hoeneß noch überlegte, ob er „Herr Beckenbauer“ sagen sollte, kam der auf ihn zu: „Ich bin der Franz.“ Beim Franz sei der Ball immer sicher gewesen, sagt Hoeneß und hebt an zwei Stellen den Fleiß von Beckenbauer hervor. Sein Meisterstück aber sei es gewesen, die WM nach Deutschland zu holen und jetzt ist das Stadion laut. In den hintersten Ecken der Welt habe er um Stimmen gekämpft. Als Bayern im Jahr 2000 von Unterhachings Gnaden Meister wurde, sei Beckenbauer um vier Uhr morgens auf den Fidschj-Inseln nur in Unterhose bekleidet vor dem Zimmer von Sepp Blatter herumgetanzt und habe gesungen: „Steht auf, wenn ihr für Bayern seid.“

Ohne Beckenbauer gäbe es dieses Stadion nicht, sagt Hoeneß, inzwischen wird zustimmend gejohlt. Nach einer Anekdote lacht die Menge und Hoeneß kommt zur WM 2006. Viele ausländische Mitbürger (wohl ein Versprecher) hätten durch die WM einen anderen Blick auf Deutschland bekommen. Hunderttausende seien damals mit schwarzrotgoldenen Fahnen stolz auf ihr Land gewesen. „Da müssen wir wieder hinkommen!“ Richtig lauter Applaus. „Ich möchte aber ausdrücklich betonen, dass ich bei diesem Prozess die AfD nicht dabei haben möchte.“ Etwas leiserer Applaus.

Sein „Glückshaferl“ sei irgendwann leer gewesen, sagt Hoeneß und spricht von einer unseligen Kampagne gegen Beckenbauer in den letzten Jahren.

„Er fehlt mir“, spricht der Ehrenpräsident, nicht mehr als Redner zum Stadion, sondern im Zwiegespräch mit Franz Beckenbauer und sich selbst.

Er verlässt die Bühne und wird durch Kardinal Marx ersetzt.

Per Mail habe Papst Franziskus ausrichten lassen, er sei im Gebet mit den Hinterbliebenen verbunden. Marx betet, nach dem „Amen“ wird geklatscht. Vier Säulen mit roten Rosen stehen auf der Bühne, warum vier? Werden auf ihnen noch Pokale platziert?

Tenor Jonas Kaufmann singt ein letztes Mal, den dritten Akt des Turandot. Das Licht wird gedimmt. „Die Allianz Arena wird Ihnen leuchten“, verabschiedet Lehmann die Menge. Der Himmel ist wolkenlos blau, als er das sagt. Ins Knirschen und Knarzen mischen sich auf dem Rückweg Gespräche.